Produktinformationen "Anamorphose eines Skeletts mit Lorbeerkranz"
„Wenn man aber sagt, daß dieses Bild ein Portrait zeigen soll, so hätte man Grund zu sagen, es sei verworren, weil man nicht bestimmen könnte, ob es die Ansicht eines Menschen, eines Affen oder eines Fisches darstellt. Wenn man es indessen in einem zylindrischen Spiegel betrachtet, so kann möglicherweise die Verworrenheit verschwinden.“ So heißt es bei Gottfried Wilhelm Leibniz. Die „Verworrenheit“ der vier Blätter verschwinden lassen, sie enträtseln kann man mit Hilfe eines solchen Kegelspiegels – stellt man ihn jeweils in den Kreis mit schwarzem Grund auf unseren vier Blättern, dann geben sie ihr Geheimnis auf dem Spiegel preis: Auf den vier zunächst nur als amorphe, zerfließende Farbflächen erkennbaren Blättern wird mittels des Spiegels ein sitzender Hund sichtbar, ein Mann in Mantel mit Barett gibt sich zu erkennen und zwei kostümierte Skelette grüßen. Mitte des 18. Jahrhunderts hatte Alexandre Savérien die Entzerrung solcher Bilder mittels eines Kegel- oder Zylinderspiegels eindrücklich illustriert; stellt man den Spiegel an den vorgesehenen Platz, bündeln sich in ihm die Formen und das abstrakte Bild wird erkennbar. Aus derselben Zeit stammen unsere vier Anamorphosen, wie man solche Spiegelbilder seit dem 17. Jahrhundert mit dem aus dem Griechischen entlehnten Begriff nannte. Der Franzose Jean François Niceron, Ordensbruder der Minimen, hatte die theoretischen Grundlagen dieser ‚doppelgestaltigen‘ bzw. ‚gegenförmigen‘ Bilder ausführlich beschrieben und der Würzburger Mathematiker Gaspar Schott dafür erstmals die Bezeichnung „Anamorphose“ eingeführt. Sie erfreuten sich im 18. Jahrhundert als optische Spielerei, gleichsam als intellektuelle Unterhaltung großer Beliebtheit und wurden in zahlreichen Drucken verbreitet. Auch unsere vier Anamorphosen könnten im süddeutschen Raum – am ehesten in Augsburg oder Nürnberg – in ähnlicher Funktion entstanden sein. Vor allem katoptrische Anamorphosen, die zur Enträtselung des Bildes eines zylindrischen, konischen oder pyramidalen Kegels bedürfen, wurden „ein populäres Medium des intelligenten Zeitvertreibs […], das die steigende Nachfrage nach visuellen Unterhaltungen befriedigte.“ Bevor die Anamorphose im 18. Jahrhundert allerdings in den Rang einer geistreichen, vor allem überraschenden optischen Unterhaltung versetzt werden konnte, in der sie ihren metaphysischen Gehalt verloren hatte, stand ihre Herkunft aus der Welt der Wunderkammern und der optischen Magie. Dort waren sie beliebte Instrumente allgemeiner Gelehrsamkeit, um Vorgänge der Wahrnehmung zu demonstrieren: Auf einem um 1625 entstandenen Kupferstich Hans Tröschels nach einer Zeichnung von Simon Vouet, einer der frühesten bildlichen Belege für eine katoptrische Spiegelanamorphose, haben sich acht Satyrn an einem Tisch um einen verspiegelten Glaszylinder versammelt, der das Bild eines Elefanten entzerrt. Sie bestaunen das Bild gestenreich, diskutieren über das Gesehene, scheinen sich auch darüber zu belustigen, doch ob sie es verstehen, bleibt fraglich. Das Motto des Schriftbandes „Format et illustrat“ verweist auf diese Ebene – einerseits auf das Formen und veranschaulichen des optischen Vorgangs, aber genauso auf das Ausbilden von Erkenntnis, die die ‚wilden‘ Satyrn erhellen möge. Die Satyrn wohnen einem Spiel mit dem Schein bei, bei dem das Auge getäuscht wird, die Formen verschwimmen und nur als ungestalte Farben erkennbar sind – der Spiegel ist ein Instrument theoretischer Erkenntnis, denn in der Verzerrung vollzieht sich gleichsam die Zerstörung der sichtbaren Welt. Das amorphe Bild sät Zweifel am Sichtbaren und am empirischen Wissen – erst mit dem Einsatz des Spiegels konkretisiert sich eine Gestalt aus der ungeformten Masse. Anamorphosen sind deshalb bisweilen als Kritik an der von Leon Battista Alberti etablierten Zentralperspektive verstanden worden, denn tatsächlich scheinen sie zunächst diese rationale Ordnung der Perspektive zu unterlaufen, doch die Entzerrung mittels des Spiegels bestätigt, dass beide auf denselben geometrischen Regeln beruhen. Der Erprobung des anamorphotischen Verfahrens lag die Erkenntnis zu Grunde, dass eine verlässliche Welterkenntnis nur durch stete Veränderung des eigenen Standpunktes möglich ist. Zu dieser erkenntnistheoretischen Einsicht trat die Mahnung über die Unbeständigkeit alles Irdischen, nicht zuletzt als Zeichen der Vergänglichkeit, die in Darstellungen von anamorphotischen Memento Mori und Skeletten thematisiert wurde. Dass der Tod immer präsent ist, auch wenn man ihn nicht erkennt – dafür ist das wohl berühmteste Beispiel Hans Holbeins d. J. 1533 gemaltes Doppelbildnis der Gesandten Jean de Dinteville und Georges de Selve (National Gallery, London). Vor den beiden Gesandten liegt die Anamorphose eines Totenschädels, die dem Betrachter seine Vergänglichkeit vor Augen führt, wenn er seinen Standpunkt verändert. Er muss sich vor dem Bild bewegen, um es vollständig erfassen zu können, und damit verbunden ist vor allem die Aufforderung, intellektuell beweglich zu bleiben, um die vielfältigen Erscheinungen der Welt zu erfassen und zu verstehen. Es ist eine Reflexion über die Relativität von Erkenntnis, eine Selbstvergewisserung der Wirklichkeit und damit Reaktion auf die zentralperspektivischen Errungenschaften der Renaissance, die als lineares Repräsentationssystem eine verlässliche Welterkenntnis verbürgte. Und es ist nicht zuletzt auch eine Reflexion über die Wirklichkeit der Malerei, deren Schein erst durch die Entzerrung mittels des Spiegels erkennbar wird – die Grenzen zwischen dem Schein des Bildes und dem Sein werden sichtbar, die der Betrachter aktiv überschreitet: Erst durch den sich bewegenden Betrachter entsteht aus den amorphen Farbflächen und verschwimmenden Formen das verständliche Bild. (Text: Peter Prange)
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