Friedrichs Freunde Romantik in Dresden
»Luft und Wasser schmelzen ineinander, und so scheint die Welt […] in Glanz und Licht sich aufzulösen und zu entkörpern.« – Johann Gottlob von Quandt
–4– Am Beginn steht Novalis, als er in seinen Fragmenten kurz vor 1800 forderte: »Die Welt muß romantisiert werden. So findet man den ursprünglichen Sinn wieder. Romantisieren ist nichts anderes als eine qualitative Potenzierung […]. Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen einen unendlichen Schein gebe, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisiere ich es.« 1 Doch was war das für eine Welt, die »romantisiert«werdenmusste?Novalis schrieb seine Fragmente in dem Moment, als die Welt aus den Fugen geraten war – 1789 hatte die Französische Revolution ein säkulares Fanal gesetzt, das die alte europäische Ordnung ins Wanken brachte; wenig später schien das Ende des christlichen Europas besiegelt, als französische Truppen 1798 Rom brandschatzten und den Papst verschleppten, als schließlich Napoleon, dieser durch und durch säkulare Geist, sich anschickte, zum Beherrscher des kontinentalen Europas zu werden. Alte Gewissheiten wurden außer Kraft gesetzt, neue mussten sich erst noch durchsetzen; Rationalismus und Subjektivismus rangen miteinander, forderten das Individuum in einer Weise, die heute trotz der Katastrophen des 20. Jahrhunderts kaum mehr vorstellbar ist. Es ist eine Epoche des grundlegenden politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Umbruchs und Wandels, der auch in Deutschland bis heute tiefe Spuren hinterlassen hat: Die Existenz Preußens stand in Frage, das Heilige Römische Reich Deutscher Nation wurde aufgelöst und Deutschland zerfiel in Einzelstaaten mit ihren ganz unterschiedlichen Partikularinteressen. Neue Zentren bildeten sich – natürlich Berlin an der Spitze Preußens, München im Königreich Bayern, Wien nun nicht mehr als Metropole des Habsburgerreichs, sondern als Hauptstadt von Österreich-Ungarn und nicht zuletzt Dresden in Sachsen. WienundDresdensinddiebeidenStädte, indenendiedeutscheRomantik erfunden wurde – dabei auf ganz unterschiedliche Weise. Während in Wien imKreis umFriedrich Schlegel (1772–1829), der 1808 imKölner Dom zum Katholizismus konvertiert und danach in Wien ansässig war, sich Als die Romantik nach Dresden kam »Die Welt muß romantisiert werden« 1 Novalis 1987, S. 384. – Novalis
–5– eine katholisch gesinnte Romantik um die sogenannten »Lukasbrüder« entwickelte, die sich den Konventionen der Akademie widersetzten und wenig später in Rom als Nazarener für eine Erneuerung der religiösen Malerei im Sinne des Mittelalters eintraten, war Dresden die Geburtsstätte der protestantischen Romantik in Deutschland. Vor 250 Jahren wurde ihr wichtigster Vertreter, Caspar David Friedrich (1774–1840), in Greifswald geboren, der in Dresden die »Kunst für eine neue Zeit« schuf – so der Titel der jüngsten Ausstellung in der Hamburger Kunsthalle. Friedrich hatte sich nach einem Studium an der Akademie in Kopenhagen 1798 in Dresden niedergelassen, wo er die Romantik erfand. Friedrich ist die alles beherrschende Figur im Kunstgeschehen in Dresden nach 1800. Hier vollzog er seinen epochalen Bruch mit den Traditionen des Barock und Klassizismus, hier vereinigte er Landschaft und Religion, hier erschuf er eine Bilderwelt, die denBetrachter forderte undbisweilenüberforderte – so radikalmodern waren seine auf eine ganz eigene Wirkungsästhetik abzielenden Bilderfindungen. Als Friedrich 1810 auf der Berliner Akademieausstellung seinen Mönch am Meer ausstellte 2 (abb.1), bemerkte Heinrich von Kleist, »da es, in seiner Einförmigkeit und Uferlosigkeit nichts als den Rahmen zum Vordergrund hat, so ist es, wenn man es betrachtet, als ob einem die Augenlieder weggeschnitten wären […]«. 3 Es war die Radikalität und Modernität solcher Bilderfindungen, die den amerikanischen Kunsthistoriker Robert Rosenblum dazu veranlassten, den Bogen von Friedrich bis hin zu Mark Rothko, vom 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert zu spannen – mit dem Mönch am Meer auf dem Titel. 4 Friedrich hat das »Gewöhnliche« und »Bekannte« im Sinne von Novalis »romantisiert«, hat das Motiv der Landschaft überformt und überhöht, hat sie in das Zentrum seiner Ästhetik gestellt, hat sie nicht zuletzt zum Ausdruck seines sakralen Weltverständnisses gemacht. Die Modernität Friedrichs wurde von den Zeitgenossen aber nicht immer verstanden, seine Gemälde waren Gegenstand kunsttheoretischer Auseinandersetzungen, als imsogenanntenRamdohr-Streit Friedrichs Tetschener Altar (abb.2) 5 Zielobjekt einer polemischen Kritik Basilius von Ramdohrs wurde, in der sich der Autor gegen Friedrichs Idee wandte, Landschaft und Religion miteinander zu vereinigen, und geradezu als Blasphemie brandmarkte, weil es gegen alle Konventionen der Landschaftsmalerei verstoße. Bereits zu Lebzeiten wurde das fordernde Werk Friedrichs nicht immer verstanden und war sogar teilweise dem Vergessen anheimgegeben. Georg Heinrich Crola (1804–1879), der als Künstler eher Johan Christian Dahl (1788–1857) nahestand, aber auch von Friedrich protegiert wurde, schrieb rückblickend in seinen Lebenserinnerungen, dass Friedrich »in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts für einen großen Künstler gehalten [wurde]. In der Tiefe seines Seelen- und Gemüthslebens war er es gewiss auch. Aber seine entschiedene Abneigung abb.1 Caspar David Friedrich: Mönch am Meer, um 1808/10 abb.2 Caspar David Friedrich: Das Kreuz im Gebirge (Tetschener Altar), um 1808 2 Caspar David Friedrich, Mönch am Meer, Öl auf Leinwand, 110 ✗ 171,5 cm, Staatliche Museen zu Berlin, Alte Nationalgalerie, Inv. Nr. NG9/85, vgl. Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 302–304, Nr. 168, Abb. 3 Kleist 1810. 4 Rosenblum 1975. 5 Caspar David Friedrich, Das Kreuz im Gebirge (Tetschener Altar), Öl auf Leinwand, 115 ✗ 110 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden,GalerieNeueMeister,Gal.-Nr. 2197D.
–6– gegen den Kulturgang seiner Zeit ließ ihn sich isolieren, wodurch er noch zu Lebzeiten in eine unverdiente Vergessenheit geriet.« 6 Und bereits 1820 hatte ein Kritiker anlässlich der jährlich stattfindenden Akademieausstellung, auf der Friedrich mit mehreren Gemälden vertreten war, beklagt, dass er »sich immer tiefer ins wunderlich Mystische« 7 verirrt hat und wenige Jahre nach seinem Tod war man der »tiefsinnigen Sentimentalitäten und religiösen Anspielungen, wie der Maler Caspar David Friedrich sie herbeizuziehen pflegte, […] längst satt geworden. Die Zeit hat längst jene Richtung überwachsen. Es erscheinen uns jene weiland berühmten Landschaften nur als Spielereien eines trübsinnigen Hyperboräers«, hieß es 1846 bei dem mit Friedrich befreundeten Theologen Theodor Schwarz. 8 War Friedrich also auch in Dresden doch nur eine Einzelerscheinung, die nur kurz leuchtete? Tatsächlich war Friedrich bei seinem Tod 1840 weitgehend vergessen und es sollte bis 1906 dauern, als auf der großen Jahrhundertausstellung in Berlin die Wiederentdeckung seines Werks begann. Und erinnert sei in diesem Zusammenhang daran, dass Friedrichs heute vielleicht bekanntestes Gemälde – der Kreidefelsen auf Rügen 9 in der Sammlung Oskar Reinhart in Winterthur (abb.3) – sogar bis 1920 warten musste, als Werk Friedrichs erkannt zu werden. Es galt bis dahin als Gemälde Carl Blechens, bis es Guido Joseph Kern als Arbeit Friedrichs erkannte. Friedrich als bedeutendster Künstler der deutschen Romantik ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts – 1896 hatte Hugo von Tschudi in der Berliner Nationalgalerie eine neue Hängung veranlasst, die die Werke Friedrichs ins Zentrum holte und 1906 wurden auf der Jahrhundertausstellung allein von Friedrich 93 Gemälde und Zeichnungen gezeigt 10, die seinen Ruf als größter Künstler Deutschlands und als Bahnbrecher der Kunst in Europa begründeten. abb.3 Caspar David Friedrich: Kreidefelsen auf Rügen, 1818 6 Zitiert nach Lebenserinnerungen 1807– 1838, in: Juranek 2009, S. 30. 7 Schorns Kunstblatt 1820, Nr. 95, 27. November 1820, S. 377. 8 Schwarz 1846, S. 125. 9 Caspar David Friedrich, Kreidefelsen auf Rügen, Öl auf Leinwand, 90,5 ✗ 71 cm, Kunst Museum Winterthur-Reinhart am Stadtgarten, Inv.Nr. OR 165. Vgl. Börsch-Supan/ Jähnig 1973, S. 353–354, Nr. 257, Abb. 10 Ausst.-Kat. München 1906 [1], S. 89–91, Nr. 500–536; Ausst.-Kat. München 1906 [2], S. 39–44, Nr. 2413–2469. Caspar David Friedrich als bedeutendster Künstler der deutschen Romantik ist eine Erfindung des 20. Jahrhunderts
–7– So einzigartig Friedrichs Werk heute die Dresdner Romantik verkörpert, fand es jedoch kaum Nachfolge, war aber nicht voraussetzungslos: Bereits vor Friedrichs Eintreffen Ende des 18. Jahrhunderts war Dresden eine der prächtigsten Residenzen Europas, war es eine Kulturmetropole europäischen Rangs, in der gleichermaßen Musik, Theater, Kunst und Architektur von den sächsischen Kurfürsten gefördert wurden. Es entstand im 18. Jahrhundert ein Musenhof, von dessen Ruf die Stadt Dresden bis heute profitiert – trotz der Zerstörungen durch den Zweiten Weltkrieg sind es die von Kurfürst Friedrich August I. und seinemSohnFriedrichAugust II. initiiertenBauten, die bis heute das Bild der Stadt bestimmen. Gleichsam als Vermächtnis wurde 1747 der Venezianer Bernardo Bellotto (1722–1780), Neffe des berühmten Antonio Canal und in dessen Werkstatt ausgebildet, nach Dresden berufen, wo er den Glanz von Elbflorenz – wie Dresden in Anbetracht seiner zahlreichen Kunstschätze und der prächtigen Architektur genannt wurde – in großformatigen Veduten dokumentieren sollte. Bis 1758 schuf Bellotto insgesamt 14 großformatige Gemäldeansichten von der Residenzstadt (abb.4), von denen er die meisten zum Zwecke des Verkaufs an Sammler und Reisende auch in Radierungen vervielfältigte (kat.1). 11 Auf unserer Ansicht des Altmarkts zeigt sich Bellottos ausgeprägter Sinn für das repräsentative Ganze des Marktes, den er von der Seestraße aus mit einem Blick erfasst. Links durch die Schlossstraße bis zum Turm der Hofkirche fluchtend, fasst Bellotto den Markt als Stadtraum auf, der von den unterschiedlich rhythmisierten Fassaden der repräsentativen Bürgerbauten eingefasst wird. Es ist Markttag, an dem Bellotto den Betrachter teilhaben lässt – dicht gedrängt stehen die Marktbuden auf dem Platz, auf dem sich eine Menschenschar eingefunden hat, um das vielfältige Angebot inAugenschein zu nehmen. ImVordergrund verlässt eine höfische Kutsche das Rathaus, Weinhändler laden ihre Fässer ab und Lastenträger warten auf Aufträge. So bewegt sich Bellotto gleichermaßen zwischen dokumentarischem Anspruch und erzählerischer Vedute, ein stimmungsvolles Bildder Residenzstadt, das zusätzlichenReiz durch das leicht flirrende »Vibrato« seines Radierstils erhält. Die Erfahrung des Stadtraumes als Lebensraum ist eine charakteristische Erscheinung des 18. Jahrhunderts – die zahlreichen Vedutenfolgen kat. 1 Bernardo Bellotto »Canaletto«: Ansicht des Alten Marktes in Dresden, 1752 abb.4 Bernardo Bellotto »Canaletto«: Der Altmarkt in Dresden von der Seegasse aus 11 Auch für unsere Radierung liegt die Gemäldeversion vor: Bernardo Bellotto, Der Altmarkt in Dresden von der Seegasse aus, Öl auf Leinwand, 137 ✗ 239 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Gemäldegalerie Alte Meister, Gal.-Nr. 615, vgl. Kozakiewicz 1972, S. 136–147, Nr. 176, Abb. Vor Caspar David Friedrich
–8– aus Residenz- und Bürgerstädten geben davon Zeugnis – und Dresden bildet darin keine Ausnahme, doch entscheidender für die »Erfindung« der Romantik und die Entwicklung der Landschaftsmalerei in Sachsen war die künstlerische Entdeckung der Umgebung von Dresden. Bereits im18. Jahrhundert hattenMalerwie Johann Alexander Thiele (1685–1752), Johann Christian Vollerdt (1708–1769), Christian Wilhelm Ernst Dietrich, genannt Dietricy (1712–1774), oder Johann ChristianKlengel(1751–1824)AusflügeindieUmgebung von Dresden gemacht und diese in Gemälden und Zeichnungen festgehalten. Zu ihnen zählte auch ChristophNathe (1753–1806), neben Franz Gareis (1775–1803) und Heinrich Theodor Wehle (1778–1805) einer von drei aus der Oberlausitz stammenden Malern, die um 1800 auch überregionale Bedeutung erlangten. Der aus der Nähe von Görlitz stammende Nathe, der zu Lebzeiten von Sammlern wie Herzog Albert von SachsenTeschen (1732–1822) geschätzt wurde 12, unternahm nicht nur ausgedehnte Wanderungen nach Böhmen ins Riesengebirge, mit denen er Friedrichzeitlichundmotivischvoranging, sondern auch in die unmittelbare Umgebung von Görlitz. Als eine »Paysage aux environs de Lauszitz« wurde unser 1783 entstandenes Blatt bezeichnet (kat.2), das sich in der Sammlung des Leipziger Ratsherrn und Kaufmanns Gottfried Winckler d. J. (1731–1795) sowie des Kopenhagener Museumsdirektors Johan Conrad Spengler (1767–1838) befand 13 – es zeigt den Blick in eine hügelige, mit einzelnen Gehöften und Bäumen durchsetzteLandschaft, die in ihrerZweiteilung in nah und fern charakteristisch für Nathes Landschaftsauffassung ist. Bereits in der Zeichenweise ist eine solche Unterscheidung angelegt: Nur wenige geschwungene Kürzel charakterisieren den aufgeweichten Weg mit den eingegrabenen Radfurchen und auch die von Gras bewachsene Kuppe, auf der zwei Landarbeiter heimkehren, wird mit kurzen, breiten Strichen des Pinsels eher summarisch wiedergegeben. Sie stehen im Kontrast zu der sich sanft entwickelnden Hügellandschaft mit Häusern und Bäumen, die sich quer durch den Bildraum erstreckt – hier tritt an die Stelle des kräftigen, den Vordergrund betonenden Braun eine sanfte, differenziert ausgeführte Aquarellierung in Schattierungen von Grün und Gelb bis in ein leichtes Blau, das sich am Himmel mit dem Papierton verbindet. So schafft Nathe ein stimmiges Nebeneinander von nah und fern, das zwar noch von der Transitorik des 18. Jahrhunderts bestimmt ist, doch besonders in der feinen Aquarellierung durchaus in die Zukunft weisen konnte. 12 Albert von Sachsen-Teschen erwarb allein von Nathe 26 Zeichnungen, vgl. Gröning/ Sternath 1997, S. 172–178. 13 Catalogue Kopenhagen 1839, S. 104, Los 909. Ein stimmiges Nebeneinander von nah und fern kat. 2 Christoph Nathe: Lausitzer Landschaft, 1783
–9– Dies gilt ähnlich für den jung verstorbenen, ebenfalls bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts tätigen Johann Georg Wagner (1744– 1767), der zu Lebzeiten vor allem durch seine farbkräftigen Gouachen bekannt war. Selbst in Paris, wo der allseits gerühmte Kupferstecher Johann Georg Wille (1705–1808) zu seinen Förderern und Bewunderern gehörte, waren sie auf demKunstmarkt geschätzt – dort wurde es Mode, »coloriés d’après Wagner« oder »dans la manièredeWagner«zumalen. 14 Der in Meißen tätige Wagner, der wie Nathe zu den frühen Entdeckern der sächsischen Landschaft gezählt werden darf, zeigt sich auf unserem Gemäldepaar (kat.3) noch von einem barocken Pathos erfüllt, das ihm durch seinen Onkel Christian Wilhelm Ernst Dietrich, genannt Dietricy, vermittelt worden sein dürfte: Im Hochformat stellt es eine von mächtigen Felsen dominierte Landschaft dar, links dahinter stürzt aus Gebirgszügen kommend ein Wasserfall in die Tiefe, während im Vordergrund sich Holzpfähle auftürmen und ein Greis am Stock sich seiner Holzhütte nähert. Warmes Kolorit und bewegter Himmel, aufgewühlte Natur und Stille berühren einander, und wenn man wollte, könnte man in den überkreuzt liegenden Baumstämmen im Vordergrund noch eine religiöse Anspielung erkennen, die demBetrachtervermittelt,wiekleinderMenschangesichtsdergöttlichen Schöpfung erscheint. Die Gemälde, die im Werk Wagners deshalb eine Besonderheit vorstellen, weil es sich um zwei seiner wenigen auf Holz gemalten Bilder handelt, galt im18. Jahrhundert mit den gewählten Bildelementen – Wasserfall, Gebirge, Felsen, Vegetation – als Inbegriff einer »wilden« Landschaft, die allerdings im Sinne einer Komposition mehr erfunden als von eigener Naturanschauung inspiriert war. Sie belegte die Fähigkeit des Malers zu geistreicher Komposition, in der Wagner überlieferte, traditionelle Bildelemente neu zusammenstellte – in unserem Fall etwa Landschaften vonNiederländern des 17. Jahrhunderts wie Ruisdael und anderer, die in der Dresdner Gemäldegalerie in großer Anzahl vorhanden waren. Gleichwohl hat Wagner auch Wanderungen in seine Umgebung zwischen Meißen und Dresden unternommen, bei denen sich ältere Bildmuster und eigene Naturanschauung einander annäherten – Kupferstiche von Adrian Zingg (1734–1816) nach Wagner verweisen auf die Umgebung von Meißen oder Dörfer in der Nähe von Dresden. 15 14 Fröhlich 2000, S. 232. 15 Die Beliebtheit der Motive Wagners belegt auch eine signierte Kopie nach einem unserer Gemälde von Johann Friedrich Ludwig Oeser, die jüngst im deutschen Kunsthandel angeboten wurde: Felslandschaft mit Wasserfall und Hütte, Aquarell, 29,4 ✗ 19,7 cm, vgl. Winterberg Kunst, Heidelberg, Auktion 106, 22.April 2023, Los 91. Wagner zeigt den Inbegriff einer »wilden« Landschaft kat. 3 Johann Georg Wagner: Zwei Felslandschaften mit Eremitage, um 1765
–10– Ein Jahr vor Wagners Tod – 1766 – war in Dresden der gebürtige Schweizer Adrian Zingg eingetroffen, den Christian Ludwig von Hagedorn (1712–1780), Kunstagent des Kurfürsten und Generaldirektor der Kunstsammlungen, 1764 an die neu gegründete Allgemeine Kunst-Akademie der Malerei, Bildhauer-Kunst, Kupferstecher- und Baukunst für das Kupferstecher-Fach berufen hatte. Zingg, der zuvor bei dem Kupferstecher Johann Georg Wille in Paris tätig war, vertrat im Austausch für »Dietricy« zwar zunächst die Kupferstecherkunst, doch liegt seine eigentliche Bedeutung weniger in diesem Medium, als vielmehr in der künstlerischen Entdeckung der Sächsischen Schweiz (abb.5), mit der er zu einem Wegbereiter der Dresdner Romantik wurde. Anfangs in Begleitung seines Schweizer Landsmannes Anton Graff (1736–1813), später mit seinen zahlreichen Schülern, machte Zingg Wanderungen zunächst in die nähere Umgebung von Dresden, entdeckte dort die malerischen Gründe, und später die Gegenden um das Elbtal, für die er den Namen »Sächsische Schweiz« prägte. Zingg gilt als »Erfinder« der sächsischen und böhmischen Landschaft, der mit seiner topografischen Landschaftsdarstellung eine weit über seinen Tod hinausreichendeWirkung erzielte. An ihmschulte sich auch Caspar David Friedrich, der aus seinem Erbe heraus die unverwechselbare Dresdner Romantik schuf. Zingg war mit seinen zumeist nach der Natur gezeichneten, großformatigen Ansichten aus der Sächsischen Schweiz in Sepia und Tusche ausgesprochen erfolgreich. Ob auch unserem Blatt (kat. 4) eine bestimmte topografische Situation in Sachsen oder Böhmen zugrunde liegt, ist indes eher unwahrscheinlich, es zeigt aber alle charakteristischen Merkmale der Zeichenkunst Zinggs. Eine ausgewogene, bildhafte Komposition, in der sich nah und fern miteinander verbinden – Fischer haben sich am Ufer eines Flusses mit einem Kescher niedergelassen, um ihren Fang zu begutachten, während daneben andere Fischer ihr Netz einholen. Der Fluss windet sich durch eine hügelige, im Hintergrund bergige Landschaft und stürzt hier ein kleines, das Flussbett verengendes Gefälle herab, gesäumt von dem felsigen Hochufer, an dem die Fischer stehen. Die einzelnen Bildelemente sind somiteinander kombiniert, dass eine Komposition entsteht, doch kein Naturabbild. Es ist ein mehr oder minder noch klassizistisches Landschaftskonzept, das Zingg mit beobachteten abb.5 Nach Christian Adolf Eltzner: Die Sächsische Schweiz aus der Vogelschau Adrian Zingg gilt als der Entdecker der »Sächsischen Schweiz« kat. 4 Adrian Zingg: Flusslandschaft mit Fischern an einem Wasserfall, um 1780
–11– Elementen – etwa die für ihn charakteristischen Felsen mit ihrem Pflanzenbewuchs – und idealen Elementen im Hintergrund verbindet, der an italienische Berglandschaften erinnert. Dazu kommt die Art, die Zeichnungen mit der Feder zu umreißen, dabei für die Angabe von Baumkronen und Vegetation charakteristische Kürzel zu entwickeln, und mit dem Pinsel so auszutuschen, dass Vorder-, Mittel- und Hintergrund klar definiert sind – mit abnehmender Strichstärke und Farbintensität stellt Zingg jene Tiefenperspektive her, die den zu den Seiten offenen Bildraum für den Betrachter erfahrbar werden lässt. Zingg hat dieses System, die auf seinen Lehrer Johann Ludwig Aberli (1723–1786) zurückgehende sogenannte »Aberlische Manier«, in Dresden so perfektioniert, dass er es auch auf Umrissradierungen übertrug, die in ähnlicher Weise ausgetuscht wurden. DieseArbeitüberließZinggzumeistseinenzahlreichen Schülern, zu denen vor 1810 zeitweise auch Carl Friedrich Grünwald (1791–1841) gehörte. Er ist bis heute als Künstler wenig greifbar, dochbeteiligteer sichnach1810wiederholt an den jährlichen Akademieausstellungen und hatte 1814 »eine Parthie aus Loschwitz« eingereicht 16, die wohl mit unserem Blatt (kat. 5) identisch ist. Johann Jakob Brückner beschreibt 1803 in seinen Pitoreskische[n] Reisen durch Sachsen die dargestellte Szenerie: »Eine alte Mühle mitten im Thale, von hervortretenden undwieder schwindendenBergsattelnumlagert, führteunszueinemderschönstenPlätze, würdig, dazuweilenunduns indenwohlthätigenStralen des grossenWeltenlichts zu sonnen. Unbefangen und schuldlos spielte ein zweyjähriger Knabe, sich und dem alleinwachenden Auge sorgender Vorsicht überlassen, an der Quelle, die wenig Schritte davon das Maschinenwerk in Bewegung sezte, das den Fleiss des ehrlichen Müllers auf eine ergiebige Weise belohnte. Wir traten ein in dieses Heiligthum der Natur, wo Unschuld und Freude sich einen Altar erbaut zu haben schienen, auf dessen Stufen wir, von ihrer Priesterin mit einem herzlichen Handdruck begrüsst und eingeladen, opfern sollten.« 17 BrücknersBericht ist eine IllustrationdieserPartie imLoschwitzerGrund von Christian August Günther (1760–1824) beigefügt, der Grünwalds Ansicht weitgehend entspricht (abb.6). Grünwalds vom gleichen Standpunkt aufgenommene,monochromeAussichtzeigtdas lebhafteTreiben vor der im Tal an dem Loschwitzbach gelegenen Schneidemühle der Familie Hänsel – Baumstämme liegen zur Weiterverarbeitung bereit, die Wege von Ausflüglern und Waldarbeitern kreuzen sich und Kinder spielen mit dort weidenden Ziegen. kat. 5 Carl Friedrich Grünwald: Parthie aus dem Loschwitzer Grund, um 1814 abb.6 Christian August Günther: Partie im Loschwitzer Thale 16 Verzeichniß Dresden 1814, S. 8, Nr. 57. 17 Brückner 1803, S. 23–24.
–12– 18 Brückner 1803, S. 28. 19 Für den Hinweis auf Veith danke ich Anke Fröhlich-Schauseil, Dresden (E-Mail vom 29.April 2024). Grünwalds Ansicht der sog. »Hänselmühle« im Loschwitzgrund ist ein stimmungsvolles Bild wild romantischen Charakters und voller landschaftlicher Wandlungen. »Ein endloser Wechsel anziehender und das Auge fesselnder Gruppen und Gestalten der Bäume« und der »überzustürzen drohenden Felsenmassen, der wunderlichen Krümmungen des Bachs, der das Thal bewässert« bemerkt Brückner dazu. 18 Die verschiedenen Gründe – enge und tief eingeschnittene Täler mit reißenden Bächen und Wasserfällen – in der Umgebung von Dresden waren voller pittoresker Einfälle, die um 1800 erste Touristen und zahlreiche Künstler anlockten. Der bekannteste unter ihnen war der PlauenscheGrund, der sich imTal der Weißeritz bis ins südwestlich von Dresden gelegene Tharandt erstreckte (kat. 6). Der kleine Ort mit seiner pittoresken Burgruine erlebte aufgrund seiner 1792 entdeckten Quellen eine kurze Blütezeit als Badeort – aus dieser Zeit dürfte auch unsere Ansicht stammen, die unten mit »Im Plauenschen Grunde, hin zu Tharandt« bezeichnet ist. Zu beiden Seiten steigt das dichtbewachsene Kerbtal an, links sanfter, rechts steiler, in dessen Mitte sich die Weißeritz in den von Brückner erwähnten »wunderlichen Krümmungen« über ein Wehr ihren Weg bahnt. Im Gegensatz zu Grünwald, der ganz der umrissbetonten Zeichenweise des Zingg-Kreises verpflichtet ist, knüpft der Zeichner dieses Blattes noch an die »tüpfelnde« Malweise des 18. Jahrhunderts an, die im Landschaftsfache u. a. von dem Schweizer Salomon Gessner (1730–1788) kultiviert wurde. Auch imZugriff auf die Natur ist unser Zeichner weniger direkt als Grünwald; vielmehr zeigt seine Ansicht noch Reminiszenzen an klassische Landschaftskompositionen, wenn er den Vordergrund bühnenartig weitet oder mit dem hohen Baum links die Ansicht bildhaft abschließt. Eine hölzerne Brücke führt über den Bach, die eine Landarbeiterfamilie auf demHeimweg von der Feldarbeit gerade überquert, während amWegesrand und auf der Wiese Vieh weidet. Es ist eine charakteristische, um eine geschlossene, idyllische Bildwirkung bemühte Ansicht im Geist des ausgehenden 18. Jahrhunderts, deren Maler bisher allerdings nicht bestimmt werden konnte, doch im Umfeld der Dresdner Akademie zu suchen sein wird. Der heute weitgehend unbekannte Johann Philipp Veith (1768–1837) könnte als Zeichner infrage kommen. 19 Die Gründe in der Umgebung waren voller pittoresker Einfälle kat. 6 Unbekannt (19. Jahrhundert): Im Plauenschen Grund bei Tharandt
–13– 20 Caspar David Friedrich, Landschaft nach Zingg, Feder in Braun über Bleistift, 18,6 ✗ 24,2 cm, Oxford, Ashmolean Museum, Inv. Nr. GCB 30, vgl. Grummt 2011, S. 204, Kat.-Nr. 195, Abb. 21 Philipp Otto Runge im Februar 1802 an seinen Bruder Daniel, vgl. Mix 2021, S. 151. 22 Philipp Otto Runge: Der Tag, aus der Serie Die Zeiten, 1807 (2. Auflage), Radierung auf Papier, 79,5 ✗ 53,9 cm, Metropolitan Museum of Art New York, Inv. Nr. 2007.129. Als Caspar David Friedrich 1798 als 24-Jähriger nach Dresden an die Akademie kam, war er in der Landschaft ein Suchender. Er schloss sich zunächst akademisch geprägten Landschaftsmalern wie Johann Christian Klengel und Jacob Wilhelm Mechau (1745–1808) an, doch noch wichtiger war der Schweizer Adrian Zingg, nach dem Friedrich auch kopiert hat. 20 Zinggs Naturstudium wies Friedrich die Richtung, wie sich an frühen Pflanzenstücken Friedrichs zeigt. Zingg wie auch Johann Philipp Veith, der in den Jahren 1794 und 1795 Ansichten aus der Umgebung von Dresden unter dem Titel Mahlerische Wanderungen durch Sachsen herausgegeben hatte, stehen als Zeichner für die Entdeckung der Umgebung Dresdens und die Verbreitung der Sepiatechnik, mit der Friedrich um 1800 erste Erfolge feierte. Zu dieser Zeit nahm er noch am Unterricht der Akademie teil – die Aktklasse war ihm allerdings ein Gräuel –, doch dürfte er bei dieser Gelegenheit auch Philipp Otto Runge (1777–1810), den bei Anton Graff studierenden anderen »Erfinder der Romantik«, wiedergetroffen haben. Sie waren sich erstmals 1801 in Greifswald begegnet und auch Runge war Ende Juni 1801 nach Dresden gekommenundhatte sich erfolglos anGoethesWeimarer Preisaufgaben beteiligt,woraufRunge inberühmtenWortendasEndedesKlassizismus und mit ihm der Historienmalerei verkündete: »Wir sind keine Griechen mehr, können das Ganze schon nicht mehr so fühlen, wenn wir ihre vollendeten Kunstwerke sehen, viel weniger selbst solche hervorbringen, und warum uns bemühen, etwas Mittelmäßiges zu liefern?« 21 Runges epochaler Geschichtsbruch, seine Absage an die Historienmalerei an sich und seine folgenden Versuche der Etablierung einer »neuen Landschaft« bis hin zu den erstmals 1805 als Kupferstiche erschienenen Tageszeiten (abb.7) 22 sind nicht ohne Einfluss auf Friedrich gewesen, doch ist ihr Verhältnis bisher nie ganz geklärt worden. Friedrichs religiöse Allegorien, die er etwa in seinem Mannheimer Skizzenbuch formuliert, sind nicht ohne Runges Einfluss denkbar. Und die Verbindung von Landschaftsmalerei und Natursymbolik, die Runge in den Tageszeiten exemplarisch vorführt, sollte auch für Friedrich zum Lebensthema werden. Friedrich konnte sich nach seiner Ankunft 1798 schnell als Mittelpunkt der Dresdner Kunstszene etablieren, was aber nicht heißt, dass er auf einen großen Freundeskreis bzw. eine große Anzahl von Förderern blicken konnte. Zu seinen vorbehaltlosen Unterstützern gehörte zunächst der Dilettant Carl Gustav Carus (1789–1869), neben Friedrich und Dahl die bemerkenswerteste Gestalt der Dresdner Romantik und einer der letzten Universalisten des 19. Jahrhunderts. Als Arzt, Naturphilosoph abb.7 Philipp Otto Runge: Der Tag, 1805 Caspar David Friedrich und sein Kreis
–14– 23 Carl Gustav Carus an Gottlob Regis, 19. Februar 1820, vgl. Prause 1956, S. 88, vgl. Digitale Sammlungen: [1814–1827, Brief 1–116] C. G. Carus an Regis (slub-dresden.de) 24 Georg Friedrich Kersting, Caspar David Friedrich in seinem Atelier, 1811, Öl auf Leinwand, 54 ✗ 42 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. HK-1285, vgl. Schnell 1994, S. 301– 302, Nr. A 29, Abb.. und Maler vielfältig tätig, hatte er 1817/18 Friedrich kennengelernt und sich in der Motivauswahl seiner frühen Gemälde oft an ihn angelehnt, ohne allerdings dessen gedankliche Tiefe zu erreichen. Insbesondere nach seiner zweiten Italienreise 1828 war er aber zunehmend zu ganz eigenständigen Bilderfindungen gelangt, in denen er sich von Friedrich emanzipierte und sich einer realistischen Landschaftsauffassung annäherte, in deren Mittelpunkt die Erdgeschichte, die Beobachtung geologischer Befunde rückte. Für die Vermittlung dieser realistischen Landschaftsauffassung bedeutend war die Bekanntschaft mit dem Norweger Johan Christian Dahl, den Carus durch die Vermittlung Friedrichs kennengelernt hatte. Zwar stand Carus dem Werk des Norwegers nicht vorbehaltlos gegenüber, doch deckte sich dessen Auffassung in verschiedenen Punkten mit seinen eigenen Vorstellungen. Anlässlich eines Besuches in Dahls Atelier 1820 schrieb Carus an seinen Freund Gottlob Regis (1791–1854), dass Dahl »mit ganz ausserordentlicher Fertigkeit und sehr reinen etwas bunten Farben die mannigfaltigsten Landschaften [malt]. Immer hatte ich die ausnehmende Kraft und Gewandtheit in der Führung des Pinsels, die Fertigkeit in richtiger Brechung der Farben und die Wahrheit vieler einzelner Gegenstände, besonders die Vordergründe in seinen Bildern bewundert.« 23 In solchen Worten ist bereits eine gewisse Ablösung von Friedrichs Stilisierung, von seiner religiösen Überhöhung der Landschaft hin zu einer naturnahen Beobachtung spürbar, die für Carus in der Folge zusehends prägend wurde. Bevor Carus nach Dresden gekommen war, gehörte der Maler Georg Friedrich Kersting (1785–1847) zu Caspar David Friedrichs engsten Freunden. Kersting, wie Friedrich aus Mecklenburg gebürtig und über die Kopenhagener Akademie nach Dresden gekommen, fand seit 1808 Anschluss an einen Kreis, dem Gerhard von Kügelgen (1772–1820), Theodor Körner (1791–1813), Louise Seidler (1786–1866) und Friedrich angehörten. Kersting, der1810Friedrichauf einerWanderungdurchdas Riesengebirge begleitete, ist vor allemdurch sein Gemälde bekannt, das Friedrich in seinem Atelier zeigt (abb.8) 24, und zuletzt einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden, als ein Skizzenbuch Friedrichs aus seinem Besitz im Berliner Kunsthandel angeboten wurde. Friedrichs Motivwelt hat auf ihn allerdings nur ganz am Anfang Einfluss gehabt, denn er wandte sich schon bald der Interieurmalerei zu, die bereits dem Biedermeier nahesteht. Im Gegensatz zu Ludwig Richter (1803–1884), der sich vor Schülern nicht retten konnte, hat Friedrich Schüler imeigentlichen Sinne kaumgehabt, denn er arbeitete wie die anderenHauptmeister der Dresdner Romantik im Wesentlichen außerhalb der Akademie. Er hatte einige Atelierschüler, von denen der bekannteste und begabteste sicher der gebürtige abb.8 Georg Friedrich Kersting: Caspar David Friedrich in seinem Atelier, 1811
–15– 25 Verzeichniß Dresden 1820, S. 33, Nr. 332. 26 August Heinrich, Partie aus dem Uttewalder Grund, 1820, Öl auf Leinwand, 52 ✗ 41 cm, Wien, ÖsterreichischeGalerie, Inv. Nr. 743, vgl. Krämer 1979, S. 132, Nr. 3. 27 Caspar David Friedrich, Felsentor im Uttewalder Grund, Essen, Museum Folkwang, Inv. Nr. C 21–36, vgl. Börsch-Supan/Jähnig 1973, S. 264–265, Nr. 77, Abb. Dresdner August Heinrich (1794– 1822) war. Heinrich erhielt seit 1810 an der Akademie unter Christian August Lindner (1772–1832) Zeichenunterricht, wechselte aber 1812 an die Akademie in Wien, wo er im Umkreis der Wiener Romantik von Ferdinand Olivier (1785–1841) und Julius Schnorr von Carolsfeld (1794–1872), vor allem aber von Johann Christoph Erhard (1795–1822) und Heinrich Reinhold (1788–1825) wesentliche Anregungen empfing. 1818 kehrte er nach sechsjährigem Aufenthalt in Wien nach Dresden zurück und beteiligte sich 1820 als »Schüler von Friedrich« an der Akademieausstellung, die er mit »einer Landschaft, nach der Natur in Oel gem[alt]« beschickt hatte 25, die mit seiner 1820 entstandenen Partie aus dem Uttewalder Grund identifiziert wurde. 26 Der Uttewalder Grund – ein Seitental der Elbe südlich von Lohmen – gehörte zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten in der Sächsischen Schweiz. Höhepunkt des Weges durch die pittoreske, wildromantische Sandsteinschlucht war das Felsentor, das Friedrich bereits kurz nach 1800 aufgesucht hatte (abb.9). 27 In der Verbindung von Fläche und Silhouette gelangt Friedrichzueiner abstrahiertenForm, inderdasTor zumSymbol des Todes und das Licht dahinter zumZeichen der Erlösung wird. Dieser symbolträchtigen, existenziellen Deutungverweigert sichHeinrich–sein Gemälde ist Bekenntnis zur sichtbaren, erlebten Natur und weist damit über Friedrichs Subjektivismus hinaus zu einer realistischen Naturauffassung. Heinrich stellt nicht das symbolisch aufgeladene Felsentor in den Mittelpunkt seiner Betrachtung sondern den »Weg« dorthin durch die steile Schlucht mit ihren ständig wechselnden Einblicken. Eine Art Vorzeichnung zum Gemälde stellt unser Blatt (kat.7) dar, das der steil aufragenden Felsenformation detailliert nachgeht. Hier ist Heinrich in den Schraffurenundden Tannennoch Friedrichs Zeichenstil verbunden, dochwodieser sichdieNatur einemzeichnerischenSystemunterordnet, ist Heinrich insgesamt freier und der detaillierten Naturbeobachtung verpflichtet. Wie Heinrich die hoch aufgeschossenen Tannen mit ihren fedrigen Zweigen beobachtet, die an den schroffen Felsen Halt gefunden haben, und das Spiel von Licht und Schatten auf den Schichtungen des abb.9 Caspar David Friedrich: Das Felsentor im Uttewalder Grund, 1800 kat. 7 August Heinrich: Im Uttenwalder Grund, um 1820
–16– 28 Zitiert nach Zschoche 2005, S. 148. Sandsteins in locker geführten Konturlinien schildert, ist mehr malerisch als symbolhaft. Befreit von Friedrichs Metaphorik, verdankt seine intensive Beobachtung der NaturerscheinungenWienmehr als Dresden. Tatsächlich ist Heinrich ein interessantes Bindeglied zwischen Wiener und Dresdner Romantik, die in seinem durch seinen frühen Tod unvollendet gebliebenen Werk nur wenig Eindruck hinterlassen hat. Gleichwohl hat Friedrich Heinrichs Gemälde zum Anlass genommen, ihm einen Empfehlungsbrief zu schreiben: »Das Bild zeugt bei näherer Betrachtung und Untersuchung von seiner Fähigkeit in der Darstellung und einem reinen Sinn und Liebe für Natur undWahrheit. Aber mehr, als Heinrich bisher geleistet hat, ist vielleicht zu berücksichtigen, was in der Folge von ihmzuerwarten steht. Dennunter der treuenNachahmungder Natur fühlt Heinrich es recht lebendig, daß die Kunst noch eine höhere Forderung an Künstler und wiederum der Mensch vom Kunstwerk zu machen hat. Nach meiner Überzeugung wehre gerade das reinere Streben, was an Heinrich betrachtet und belohnt zu werden verdient, um so mehr, da es so selten ist.« 28 Unter dem Aspekt des bisher Beobachteten muss Friedrichs Urteil gleichwohl erstaunen, denn der »höheren Forderung an Künstler« im Sinne Friedrichs kommt Heinrichs Gemälde kaum nach – zu unterschiedlich in der Auffassung der Natur sind nicht nur beider Auffassungen, sondern auch ihr Temperament. Was könnte ihr andersgeartetes Gemüt besser charakterisieren als der Umstand, dass Friedrich nie in Italien war, Heinrich hingegen am 27. Oktober 1822 in Innsbruck auf dem Weg nach Italien starb. Auch wenn Friedrich nur wenige Schüler hatte und seine Kunst nach seinem Tod weitgehend vergessen wurde, lebte seine Motivwelt weiter. Ein besonderes Beispiel für dieses Fortleben ist die kleine Nachtszene von dem Dänen Georg Emil Libert (1820–1908), in der er sich gleichsam als Wiedergänger der Romantik zeigt – am Meer steht ein steinzeitliches Hünengrab und dahinter eine gewaltige Eiche, alles beschienen vomMond, der imwolkenverhangenen Himmel aufleuchtet (kat.13). Libert zitiert charakteristische Requisiten der deutschen Romantik – Hünengrab, Meer, Mond und Eiche –, die vor allem Friedrich wiederholt zum Gegenstand seiner Bildreflexionen gemacht kat. 13 Georg Emil Libert: Hünengrab bei Vollmond
–17– 29 Caspar David Friedrich, Huttens Grab, 1823/24, Öl auf Leinwand, 93 ✗ 73 cm, Klassik Stiftung Weimar, Kunstsammlungen und Museen, Inv. Nr. G 690, vgl. Börsch-Supan/ Jähnig 1973, S. 389–390, Nr. 316, Abb. 30 Ernst Ferdinand Oehme, Sakristeikapelle auf dem Oybin, um 1832, Aquarell, 16,8 ✗ 12,6 cm, Städtische Museen Zittau, Inv. Nr. 1963–61, vgl. Fröhlich-Schauseil 2019, S. 142, Nr. 41, Farbabb. 31 August Wilhelm Julius Ahlborn, Kapelle in der Klosterruine auf dem Oybin, 1825, Öl auf Leinwand, 19,5 ✗ 15,1 cm, Berlin, Galerie Gerda Bassenge, Auktion 107, 27.Mai 2016, Los 6615. hatte. Libert vereinigt diese Bausteine der Romantik auf kleinstem Format in einer stimmungsvollen Inszenierung. Inszenierung deshalb, weil es sich bei aller Naturbeobachtung von Landschaft, Vegetation und Gestein um keine Studie nach der Natur handelt, sondern um eine im Atelier entstandene Szene, die von vorne beleuchtet wird. Libert war nach dem Studium an der Akademie in Kopenhagen bei JohannLudwigLund (1777–1867) 1846mit einemStipendiumnach München gekommen, wo er sich bis Ende 1849 aufhielt. Hier entwickelte er sich unter Verwendung eines kräftigen Kolorits zu einem Landschaftsdramatiker, der in der Tradition der Romantik stand. Nach seiner Rückkehr nach Dänemark hatte er mit romantisch gestimmten Szenen aus norwegischen und deutschen Bergregionen beim Publikum großen Erfolg; Anerkennung verschafften ihm auch seine Landschaften von der damals weithin unbekannten Insel Bornholm, in denen Libert Naturbeobachtung mit nationalromantischen Elementen verband, und nicht zuletzt seine Mondlandschaften, die zu seinen Spezialitäten gehörten. Zu den Motiven, die auch durch Friedrich im allgemeinen Bildgedächtnis verankert wurden, gehört der Oybin. Die Ruinen von Burg und Cölestinerkloster auf dem Oybin bei Zittau waren nach einem Brand 1577 den Mächten der Natur überlassen worden und gegen Ende des 18. Jahrhunderts in den Fokus der Kunstreisenden geraten – vorromantische Maler wie Johann Alexander Thiele, Adrian Zingg oder Johann Philipp Veith hatten ihren Blick auf den bei Zittau gelegenen Berg mit seiner pittoresken Klosterruine gerichtet, doch war es erst Friedrich, der den Oybin romantisiert hat. Seine Sakralisierung der Klosterruine, vor allem der Sakristei in Sinne einer christlichen Vergänglichkeitsallegorie, die ihren Höhepunkt in den 1820er Jahren in Huttens Grab 29 ihren Höhepunkt erreichte (abb.10), blieb indes die Ausnahme – noch zu seinen Lebzeiten wendete sich das Verständnis hin zu einer realistischen, »entsakralisierten« Ansicht wie Beispiele von Ernst Ferdinand Oehme (1797–1855) 30 oder August Wilhelm Julius Ahlborn (1796–1857) 31 zeigen. Ihre Ansichten sind frei von religiöser Überhöhung, sie machen aus ihren Ansichten eine sachliche und genaue Befundaufnahme der Reste der mittelalterlichen Ruine, wozu auch gehört, dass sie sich nicht wie Friedrich auf die Transzendenz der abb.10 Caspar David Friedrich: Huttens Grab, 1823/24 kat. 14 Gustav Otto Müller: Sakristei der Klosterkirche auf dem Oybin, 1860
–18– 32 Franz Pforr, Sulamith und Maria, 1811, Öl auf Holz, 34,5 ✗ 32 cm, Schweinfurt, Museum Georg Schäfer, Inv. Nr. MGS 1183. 33 Friedrich Overbeck, Italia und Germania, Öl auf Leinwand, 94,5 ✗ 104,7 cm, München, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Neue Pinakothek, Inv. Nr. WAF 755. 34 Fouqué 1811, S. 1–189. drei Fenster beschränken, sonderndie Sakristei in ihrer Gesamtheit mit dem Chorbogen in den Blick nehmen. Fast wie eine Kopie nachOehmes Ansicht mutet unsere erst 1860 entstandene Ansicht von Gustav Otto Müller (1827–1922) an, die damit sicherlich zu den spätesten Deutungen des Motivs zählt (kat. 14). Auch wenn der blaue Himmel als Farbe der Romantik noch an diese erinnert, überwiegt auch hier die sachliche Schilderung der Architektur. Müller, von 1842 bis 1846 Schüler der Akademie in Dresden, ist in seiner Zeit vor allem als Militär- und Schlachtenmaler bekannt gewesen und war seit 1865 Zeichenlehrer am königlichen Kadettenhaus. Eine zeichnerische Auffassung, in der Ein- und Ausblick nebeneinanderstehen, liegt auch Müllers Ansicht zugrunde, die ein später Nachhall der durch die Romantik ausgelöste Oybin-Begeisterung ist. Die Bewunderung für die Architektur des Mittelalters wie für dieses Zeitalter allgemein sind kennzeichnend für die Epoche der Romantik. Die aus Wien gekommenen Nazarener etwa, die in Rom im verlassenen Kloster Sant’Isidoro in enger Lebens- und Arbeitsgemeinschaft zusammenlebten, erkannten im mittelalterlichen Werkstattbetrieb ihr künstlerisches Ideal und beriefen sich auf die Kunst des Quattrocento und der Dürerzeit. Sie haben sich als Zeichen ihrer Freundschaft auch Gemälde untereinander zugeeignet – am berühmtesten ist Franz Pforrs (1788–1812) Sulamith und Maria 32 (abb.11), auf das Friedrich Overbeck (1789–1869) mit seinem programmatischen Gemälde Italia und Germania 33 (abb.12) antwortete. Auch in zahlreichen einander zugeeigneten Bildnissen haben sich die Künstler der Romantik ihrer Freundschaft versichert und Freundschaftsbünde geschlossen. Ein Beispiel, das für unsere Betrachtung von Belang ist, war der Scharfenberger Freundschaftsbund, benannt nach der über der Elbe südlich von Meißen gelegenen Burg Scharfenberg, wohin 1812 der Dichter und Komponist Karl Borromäus von Miltitz (1781–1845) übergesiedelt war. Miltitz hatte 1813/14 an den Befreiungskriegen teilgenommen und versammelte auf Schloss Scharfenberg bis 1824 einen Kreis, der seine romantische Begeisterung für das Mittelalter mit patriotischer Gesinnung verband. Zu ihmgehörte nebenFriedrichde laMotte Fouqué (1777–1843), dermit seiner märchenhaften Undine 34 im allgemeinen Gedächtnis verankert ist, und Johann August Apel (1771–1816) auch Moritz Retzsch (1779–1857), der vor allem als Illustrator der Dramen Shakespeares, von Schillers Gedichten und Goethes Faust bekannt ist. Gemälde wie Undine oder Genoveva, die den Dichtungen Fouqués entscheidende Anregungen verdanken, bezeugen seine Verbundenheit mit dem Gedankengut der Dresdner Romantik. Hier erhielt RetzschentscheidendeAnregungenauch für sein späteres Werk, zu dem auch ein Jahreszeitenzyklus zählt, den Retzsch abb.11 Franz Pforr: Sulamith und Maria abb.12 Friedrich Overbeck: Italia und Germania Quattrocento und Dürerzeit galten der Romantik als Ideal
–19– 35 Berliner Kunst-Blatt 1829, S. 240–241. 36 Böttiger 1829, S. 30. für den sächsischen Kronprinzen Friedrich August ausgeführt und 1829 auf der Dresdner Akademieausstellung gezeigt hatte (kat. 9). Über den erst jüngst wieder aufgetauchten Zyklus schrieb ein Kritiker seinerzeit: »Von Moritz Retzsch sehen wir einen Cyclus der menschlichen Lebensalter, zugleich Symbole der vier Jahres- undTageszeiten behandelt. Zuerst die Jugend als Morgen und Frühling: auf einer Wiese bewegt sich eine Gruppe sehr gefällig gezeichneter Knaben, mit graziöser Leichtigkeit. Die Farbe dieses Nackten ist leicht, fast hauchartig, dassmanmehr die Idee als die verwirklichte Darstellung derselben zu bemerken glauben möchte. Dann das Jünglingsalter, als Mittag und Sommer: ein junges Mädchen reicht einem Jünglinge, der sie auf seiner Wanderung zu treffen scheint, eine Rose. Freundlich, doch zu ruhig ist der Ausdruck beider, und ein feurig sich nahender Jüngling und ein schüchtern erröthendes Mädchen dürften diese Scene eben so gut bezeichnen, als der lechzende Hund die Mittagsschwüle. In dem Bilde, welches das Mannesalter, den Abend und den Herbst darstellt, sehen wir einen schönen Mann, kräftig in Haltung, sicher im Fortschreiten, auf seiner einsamen Wanderung ein grosses Bündel tragen: sein Mantel von schweremZeugewirdvomSturmindieHöhegetrieben.DerobereTeil der Figur nun ist durch die untergehende Sonne effektvoll, doch etwas hart beleuchtet: übrigens immer im Ganzen ein Bild von sehr guter Wirkung. Das letzte Bild führt zugleich mit dem Alter die Nacht und den Winter vor. Ein Greis in Eremitenkleidung kniet vor einem einfachen Kreuze auf einem Grabhügel; sein Bild zeigt nur die Sehnsucht nach oben. Die Schneeflächen sind locker und das Mondlicht nicht ohne Eindruck.« 35 AufdemFrühlingsbild,daszugleichdenAnbruchdesTagessymbolisiert, sehen wir nur den »Reflex« der hervortretenden Sonne, wie der sächsische Hofrat Carl August Böttiger bemerkt, der imApril 1829 in Retzschs Atelier den vollendeten Zyklus sah: »Alles duftig auf der bethauten Blumenmatte. In frisch hervorsprossender Ueppigkeit überall noch das jungbelaubte Gebüsch. […]. Nichts schreit, nichts dunkelt dazwischen.« 36 Und auf dem Herbstbild hat »der Alternde schon lange seinen treuen Reisegefährten, denHund, überlebt«, während imWinter »die gespaltene Eiche zeigt, so wie alles in der Umgebung, hinsterbende Vergänglichkeit. kat. 9 Moritz Retzsch: Vier Jahreszeiten, um 1829
–20– 37 Bättiger 1829, S. 30–31. 38 Vgl. dazu Ohara 1983, S. 111. 39 Philipp Otto Runge, Triumph des Amor, Öl auf Leinwand, 66,7 ✗ 172,5 cm, Hamburger Kunsthalle, Inv. Nr. KH 2691, vgl. Traeger 1975, S. 238–329, Nr. 233, Abb. 40 Vgl. ebd., S. 356–361, Nrn. 280–283. 41 Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett, Inv. Nr. 41115–411222, vgl. Grummt 2011, Bd. II, S. 806–813, Kat.-Nrn. 892–898, Abb. 42 Ohara 1983, S. 111. 43 Caspar David Friedrich: Äußerungen bei Betrachtung einer Sammlung von Gemählden von größtentheils noch lebenden und unlängst verstorbenen Künstlern, Manuskript Staatliche Kunstsammlungen Dresden, KupferstichKabinett, Ca 49u, S. 95, zitiert nach Börsch- Supan 2008, S. 109. Eine leichte Schneedecke, die uns die deutsamen Fußstapfen zeigt, ist in mehr als einem Sinn der Sterbemantel des Winters.« 37 Böttiger lobt zudemdie »angemessendsten Farbentöne«, das Kostüm, das »weder antik noch modern« ist, die »nüchterne Einfachheit der Figuren« und hebt die symbolische, aber nicht mystische Auffassung gegenüber Runges Tageszeiten hervor (abb.7). 38 Die Allegorik in Retzschs Zyklus dürfte tatsächlich gleichermaßen von Friedrich und Runge inspiriert sein – der Morgen, die Landschaft mit spielenden Kindern und Jugendlichen, die den Anbruch des Tages symbolisieren, lässt genauso an Runges Triumph des Amor 39 (abb.13) wie an seine Tageszeiten 40 (abb.7) denken, während besonders die Nacht mit dem in einer Schneelandschaft vor dem Kreuz betenden Alten und der gebrochenen Eiche sein Vorbild in Werken Friedrichs hat. Friedrich selbst hatte 1826 einen weiteren Tageszeiten- und Lebensalter-Zyklus in der Akademieausstellung gezeigt 41, doch sind es bei Retzsch eher Zitate, als dass er Friedrichs oder Runges tiefgründige Symbolik verinnerlicht hätte. So bemerkt Mayumi Ohara zu Recht, dass »die Natur, die in den vier Jahres- und Tageszeiten vorgestellt wird, hier nur die Rolle eines gut gewählten Hintergrundes zu dieser Legende [spielt]. In Friedrichs Zyklus dagegen ist der Mensch ein untrennbarer Teil der Natur. Er nimmt keine besondere Haltung ein. Nur wird er in der Natur geboren, lebt mit ihr, entfaltet seine Geschichte mit ihr und wird durch dieselbe Vorsehung geführt: Die Natur und der Mensch vereinigen sich in derselben Ordnung.« 42 Es war sicher diese mangelnde Tiefgründigkeit, die Friedrich nicht in das Lob Böttigers einstimmen ließ, als er zu Retzschs Jahreszeiten bemerkte: »Diese vier Jahreszeiten von XX kenne ich schon, und ich gestehe frei, daß es mir leid tut, von diesem sonst ausgezeichneten, so geistreichen, genialen Künstler so et [sic] gesehen zu haben. Was er indes früher schon geleistet und ferner noch leisten wird, läßt uns diese vier Bilder leicht übersehen.« 43 Friedrichs »Übersehen« ist vor dem Hintergrund seiner kurz zuvor geschaffenen Jahreszeitenfolge verständlich, doch schätzte er Retzschs übrigeArbeiten, vor allemseineUmrissradierungen, mit denenRetzsch international erfolgreich war. Friedrichs Akzeptanz des »Anderssein« zeigte sich besonders auch am Beispiel von Johan Christian Dahl, mit dem er freundschaftlich verbunden war, in dem ihm aber auch eine künstlerische Konkurrenz erwuchs. abb.13 Philipp Otto Runge: Triumph des Amor (Ausschnitt) Die Natur und der Mensch vereinigen sich in derselben Ordnung
–21– 44 JohanChristianDahl,NordischeFlusslandschaft, 1819, Öl auf Leinwand, 138 ✗ 206,5 cm, Oslo, Nasjonalmuseet for kunst, arkitektur og design, Inv. Nr. NG.M.00447, vgl. Ausst.-Kat. 2015, S. 101–102, Kat.-Nr. 6, Farbabb. 45 Richter 1909, S. 59. 46 Zitiert nach Spitzer 2015, S. 35. 47 Caspar Davd Friedrich, Zwei Männer in Betrachtung des Mondes, Öl auf Leinwand, 33 ✗ 44,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, Galerie Neue Meister, Gal.-Nr. 2194, vgl. ebd. S. 96–97, Nr. 1, Farbabb. 48 Johan Christian Dahl, Fluss im Plauenschen Grund, Öl auf Leinwand, 55 ✗ 79 cm, KODE Kunstmuseene i Bergen, Inv. Nr. BB. 146, vgl. ebd., S. 98, Nr. 3, Farbabb. 49 Johan Christian Dahl, Im Uttewalder Grund, Oslo, Nasjonalmuseet for kunst, arkitektur og design, Inv. Nr. NG. K&H. B. 02669, vgl. ebd., S. 157, Nr. 53, Farbabb. 50 Carl Wilhelm Götzloff, „Parthie aus dem Uttenwalder Grunde“. vgl. Verzeichniß Dresden 1820, S. 35, Nr. 358. Der gebürtige Norweger Johan Christian Dahl war im Herbst 1818 mit einer norwegischen Gebirgslandschaft nach Dresden gekommen (abb.14) 44, die auf der Akademieausstellung 1819 »das ungeheuerste Aufsehen« erregte, wie Ludwig Richter bemerkte. Er bewunderte »solch schlagende Naturwahrheit«, die von den älteren Professoren als »Ketzereien oder Narrheiten« abgetan, von den jüngeren aber »bewundert und nach Kräften nachgeahmt« wurden. Es war eine Zeitenwende, »der Frühlingsodem einer neuen Zeit fing an seine Wirkung zu äußern, das alte Zopftum war im Absterben, belächelte aber in olympischer Sicherheit den tollen Rausch der jungen Sprößlinge.« 45 Dahl, wie Friedrich und Runge Spross der Kopenhagener Akademie, hatte ähnlich wie diese eine klassizistische Schulung durchlaufen, und es war deren gemeinsame kritische Haltung gegenüber der Ausbildung an der Akademie, die Dahl und Friedrich rasch miteinander verband: »Die Einrichtung hier an der Akademie gefällt mir nicht. […] man nutzt nur die alten Meister als Maßstab, um ein wahrer Künstler zu werden, und lässt sein eigenes Gefühl in keinster Weise wirken, dieses verkunstete Kopierleben tötet jeglichen Geist und Selbstständigkeit«, schrieb Dahl in einem Brief am 21.Dezember 1818. 46 Bereits 1820 eigneten sie ganz im Sinne des romantischen Freundschaftsbildes einander Gemälde zu – auf Friedrichs ZweiMänner inBetrachtungdesMondes 47 (abb.15) antwortete Dahl mit einer Ansicht aus dem Plauenschen Grund 48 –, nach Dahls Rückkehr 1821 aus Italien wohnten sie seit 1823 imgleichen Haus, nach Friedrichs Tod kümmerte sich Dahl um dessen Nachlass und es war Dahl, der bereits 1840 die beiden Männer in Betrachtung des Mondes an die Dresdner Gemäldegalerie verkauft hatte – und doch blieb Dahl bei aller Verbundenheit ein Gegenpol zu Friedrichs Bildwelt. Bereits in Kopenhagen war Dahl der Unterricht an der Akademie verhasst, und wahre Inspiration hatte er erst in dem Moment erhalten, als der 1816 aus Italien zurückgekehrte Christoffer Wilhelm Eckersberg (1783–1853) ihn anhielt, Ölstudien im Freien vor dem Motiv zu malen. Auch in Dresden hatte er sofort noch im Oktober mit Naturstudien im Plauenschen Grund begonnen und diese 1819 auch gemeinsam mit August Heinrich fortgesetzt. Im selben Jahr hatte Dahl auch die pittoreske Schlucht des Uttewalder Grundes besucht 49, der ein Jahr später August Heinrich als Schüler Friedrichs ein Gemälde widmete, das er genauso wie Carl Wilhelm Götzloff (1799–1866) auf der Akademieausstellung zeigte. 50 Ihr aller wirklichkeitsbezogener Zugriff auf die abb.14 Johan Christian Dahl: Nordische Flusslandschaft abb.15 Caspar David Friedrich: Zwei Männer in Betrachtung des Mondes Ein neuer Impuls – die Ankunft Johan Christian Dahls in Dresden
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