Produktinformationen "Studie einer schwebenden Figur"
„Schon die erste der Zeichnungen erregte mein Erstaunen und dieses wuchs mit jedem neuen Blatte, das ich betrachtete. Jedem derselben war das Gepräge eines mächtigen Geistes unverkennbar aufgedrückt, und ich konnte nicht zweifeln, der Künstler, welcher so bescheiden und anspruchslos in ärmlicher Umgebung vor mir stand, sei einer jener großen Genien, wie sie selten im Laufe der Jahrhunderte erscheinen und denen man sich nur mit Ehrfurcht nahen darf.“
Dies notierte Adolph Friedrich Graf von Schack über seine erste Begegnung mit Bonaventura Genelli in München. Schack stand mit seinem enthusiastischen Urteil über den Künstler damals weitgehend allein, hatte Genelli doch bis auf die mit einem Zerwürfnis endende Ausmalung des Römischen Hauses des Verlegers Hermann Härtel in Leipzig kaum Beachtung gefunden. 1836 war Genelli nach München gekommen, in der Hoffnung hier Auftraggeber zu finden – diese Aussicht erfüllte sich aber erst, nachdem er im Sommer 1857 Graf von Schack begegnet war. Dieser bestellte bei ihm nicht weniger als sechs großformatige Gemälde, die sich heute in der Schack-Galerie befinden, und erlöste den damals bereits hochbetagten Maler aus seiner materiellen Not.
Eine der hier vorgestellten Aktstudien hat Genelli für eines dieser Gemälde verwendet – auf dem 1864 bestellten Theatervorhang breitet unter dem Spruchband die Personifikation der Nacht ihre Flügel über ihre Töchter, die sieben Todsünden, aus. Die links an ihrem Schoß kauernde Todsünde hat Genelli in der Aktstudie (Siehe Kat. Nr. 42) vorbereitet, die charakteristisch für sein gesamtes zeichnerisches Werk ist. Von ihm sind Hunderte ähnlicher Aktstudien erhalten – der größte Bestand befindet sich in seinem Nachlass im Kupferstichkabinett der Akademie der bildenden Künste in Wien – die er in dem Bemühen um eine plastische Modellierung und gleichzeitig eine sinnliche, lebensvolle Wiedergabe des nackten Körpers sehr sorgfältig ausgeführt hat. Es handelt sich dabei nach seinem Verständnis um keine Skizzen, sondern um vollendete, fertige Studien, die er unverändert in anderen Zusammenhang übertragen konnte.
Erwin Speckter, der Hamburger Maler, der in den 1820er Jahren in Rom mit Genelli verkehrte, sah zahlreiche dieser Studien, die ihn beeindruckt hatten: „Seine Ideen sind immer neu und schlagend, schön gegeben und ebenso gruppiert. […] eine majestätische Großartigkeit, ein vollkräftiges Leben und ein großer Schwung, verbunden mit Grazie und echt antikem Schönheitssinn, sprechen überall sich aus.“
Genellis Aktstudien tragen in ihrer Idealität ein neuerwachtes, antikisches Griechentum in sich, das ihm schon früh in die Wiege gelegt wurde: Genelli verstand sich von Beginn an als Zeichner in der Nachfolge des Klassizisten Asmus Jakob Carstens. Ist es ein Zufall, das Genelli im gleichen Jahr 1798 in Berlin zur Welt kam, als dieser in Rom verschied? Genellis Vater Janus und sein Onkel Hans Christian Genelli waren mit Carstens eng befreundet gewesen und noch im Alter erinnerte sich Bonaventura einiger Zeichnungen von Carstens, die in seinem Elternhause bewahrt wurden.
Schon früh mit der antiken Mythologie vertraut, war sein Aufenthalt in Rom, wo Genelli ab 1822 für zehn Jahre lebte, für die Entwicklung seiner Künstlerpersönlichkeit von entscheidender Bedeutung. Hier fand er zu Homer und Dante, denen er zahlreiche Illustrationen widmete, die ihre Schulung an Carstens, Michelangelo und der Antike nicht verleugnen. Das Erlebnis der Sixtina Michelangelos hat ihn nachhaltig beeinflusst – ähnlich erhabene und gewaltige Körper bevölkern seine nicht ohne Pathos vorgetragenen Bildwelten. Es sind diese sehr ernsthaften, bisweilen eklektisch wirkenden und aus der Zeit gefallenen Kompositionen, die Speckter veranlasst haben, Einzelheiten in seinen Zeichnungen „höchst manieriert und leichtfertig“ zu finden und ihm „ein virtuoses Genie […] im sogenannten Stehlen“ zu attestieren, „indem man viele ganz getreu copirte Figuren und Gruppen aus anderen Sachen in den seinen findet.“ Tatsächlich gemahnen seine ausgeführten Kompositionen an Michelangelo und Raffael, deren kraftvolle Menschendarstellungen Pate standen.
Hauptgegenstand seines zeichnerischen Schaffens ist der nackte Mensch, doch gehen Genellis Studien weit über die reine Aktdarstellung hinaus: Genellis Kunst ist getragen von der Linie, die angebotenen Blätter sind von einer zart-sanften Linienführung voller Poesie bestimmt, die jene Wahrheit anstrebt, die schon die Nazarener suchten. Seine Akte verkörpern eine geistig-sittliche Haltung, die von antikischer Reinheit und Erhabenheit erzählt.
Daneben traten Gewandstudien von zarter Feinheit bei gleichzeitig eindringlicher Präsenz, in denen er bestimmte Bewegungs- oder Gewandmotive einzelner Figuren beobachtete und häufig wie auf einem der vorliegenden Blätter das gleiche Motiv mehrmals wiederholte: Es handelt sich um eine Studie für eine der sieben Todsünden auf dem Titelblatt seiner erst 1866 als Lithographien veröffentlichten Folge Aus dem Leben eines Wüstlings. Dort sieht man über einer lateinischen Inschrifttafel Genellis Beschreibung zufolge auf „einem Leichten Wagen, welcher von Dämonen gezogen wird, einen Jüngling sitzen, auf den Knien den vulgären Amor, der ihm verlockende Lieder vorsingt. Diesem Amor folgen, den Wagen umschwirrend, die sieben Todsünden nach.“
Genellis Fokussierung auf den Klassizismus in der Prägung seines Vorbildes Carstens, aber auch der Einfluss von Joseph Anton Koch, mit dem er noch persönlich bekannt war, mögen seine Kunst um 1850 aus der Zeit ‚gefallen‘ erscheinen lassen, doch nur, wenn man die Entwicklung der Kunst unter dem Blickwinkel Realismus und Naturalismus betrachtet. Für Idealisten wie Hans von Marées oder Adolf von Hildebrand, die wenig später das Feld der Kunst betraten, hingegen bedeutete Genellis Konzentration auf den nackten Körper, der sittliche Reinheit und Wahrheit gleichermaßen verkörperte, die Vorwegnahme ihres idealen Griechentums. (Text: Peter Prange)
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