Ulrich Kretschmann

Malerei

Laufzeit: 24. Juni - 23. Juli 2022

Wir schreiben das Jahr 1810. Caspar David Friedrich stellt sein Gemälde Der Mönch am Meer auf der Berliner Akademieausstellung aus. Nicht allen, aber einigen Zeitgenossen ist klar, dass hiermit in der Malerei eine neue Zeitrechnung anbricht, gleichsam eine ‚Stunde Null‘. Einer, der es erkennt, ist Heinrich von Kleist und die Radikalität des Bildes fasst er in ein ebenso radikales Sprachbild, wenn es ihm beim Betrachten des Gemäldes sei, „als ob einem die Augenlieder [sic] weggeschnitten wären.“ Der Schnitt, den Kleist hier erspürt, verdeutlicht mehreres. Zum einen ist es die Unmöglichkeit des Wegsehens, das Ausgeliefertsein an den Bildraum. Zum anderen ist es aber auch der Schnitt, den das Bild selbst erfährt. Jeglicher Ballast, jede Historie, jede Dekoration sind weggeschnitten. Es ist seiner Einhausung in die Tradition verlustig gegangen. Und schließlich ist der Schnitt eine Befreiung des Auges hin zu einer Form des ‚reinen‘ Sehens. Die Entkörperlichung des Auges entspricht dabei der Entkörperlichung des Bildes, das aus seiner Rahmung herausfällt und in der Entgrenzung nicht mehr Abbild ist, sondern seine eigene Wirklichkeit wird. Hierin ergänzen sich das ‚reine Sehen‘ und die ‚reine Form‘. Der Nachklang dieses modernen Urknalls beschäftigt Kunst, Künstler und Betrachter auch heute noch ungebrochen, und dass Kleists Wort-Detonation diesem Text über den zeitgenössischen Künstler Ulrich Kretschmann vorangestellt ist, ist kein Zufall. Genau wie Friedrich und Kleist geht es ihm in seiner Kunst nicht um das Erzählen einer Geschichte oder um das Abbilden einer außerhalb des Bildes existierenden Wirklichkeit. Es geht um die Positionsbestimmung eines Individuums im Seelen-Raum, im Welt-Raum, im All-Raum. Um diese Entgrenzung greifbar zu machen, ohne sie wieder mit neuen Grenzen zu belegen, spürt Kretschmann in seiner Malerei Prozessen nach. In der meditativen Variation ermöglicht sich eine Erfahrung von Entgrenzung und Enthausung, die dem ausgeleuchteten Menschen eine neue Möglichkeit der Selbstbestimmung aufzeigen kann. Man möge sich die Bilder als Blickwelten vorstellen, die dem Kapuzinermönch am Meer beim Blick in den leeren Himmel erscheinen. Dass wir die Gemälde Ulrich Kretschmanns mit Wolkenlandschaften assoziieren, entspricht dabei der Entfesselung der Malerei. Nichts ist formloser und ungreifbarer als die Wolken am Himmel. Und gleichzeitig ist ihr Entstehen und Vergehen, ihr Ziehen über die Unendlichkeit, Symbol jener Befreiung vom Greifbaren und der Hinwendung zur ewig unabgeschlossenen Suche im Prozessualen der Natur. Ulrich Kretschmanns Malerei ist gänzlich auf diese Suche ausgerichtet. Die hier präsentierten Bilder sind nicht etwa eine Auswahl aus beliebigen Motiven. Vielmehr widmet er sich ausschließlich dem Thema der Suche und beschreitet diesen Pfad immer wieder in unterschiedlichen Variationen. Von verträumt gebläuten Himmeln bis hin zu glühend-gelben, letztbestrahlten Wolkenformationen, von vernebelten Blicken bis hin zu gleißend hellen Erscheinungen reicht das Spektrum der Bildwelten, die sich auf großem, auf kleinem und im Miniaturformat eröffnen. In dieser Absolutheit ist das Malerische als konzeptuelle Äußerung zu verstehen, als Deklination einer unendlichen Vokabel, als Anstimmen eines unendlichen Tons. Wie wir auf die Bilder blicken, in welcher Gestimmtheit, und wie wir auf uns durch sie zurückgeworfen werden, das ist das eigentliche Thema dieses gemalten Experimentes in immer neuer Versuchsanordnung.